Der Arzt als Detektiv – Patienten ohne Diagnose finden Hilfe am Zentrum für Seltene Erkrankungen Bonn
„Share your colors“ lautet das Motto des diesjährigen Tags der Seltenen Erkrankungen am 28. Februar. Eine Erkrankung gilt als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Während an einer einzelnen Krankheit nur wenige leiden, leben in der Summe etwa vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung in Deutschland. Doch solange die Ursache für die vielfältigen Symptome nicht gefunden ist, gelten sie als Patient ohne Diagnose und ihre Erkrankung wird nicht adäquat behandelt.
„Zusätzlich quälen Betroffene Ungewissheit, Ängste und Sorgen. Auch sehen sie sich mit konkreten Nachteilen in der Schule oder am Arbeitsplatz sowie mit Unverständnis bei Kollegen, Lehrern, Freunden und der Familie konfrontiert“, sagt Prof. Dr. Lorenz Grigull, Leiter des Zentrums für seltene Erkrankungen (ZSEB) des Universitätsklinikums Bonn. Aber solche komplexen medizinischen Fälle richtig zu diagnostizieren und zu behandeln, ist eine schwierige Aufgabe, der meist nur ein interdisziplinäres Team aus Spezialisten gewachsen ist. Das Universitätsklinikum Bonn hat deshalb 2011 das erste Zentrum für Seltene Erkrankungen in NRW gegründet. Vor etwa zwei Jahren wurde dort auch eine Anlaufstelle für Kinder mit einer bisher nicht diagnostizierten Erkrankung und deren Eltern gegründet. Das ZSEB ist damit eines von nur wenigen bundesweiten Zentren für Seltene Erkrankungen, das eine Anlaufstelle sowohl für Erwachsene wie auch für Kinder anbieten kann. Ziel ist es, Betroffenen schnell zu helfen.
Ärztliche Detektive finden seltene Ursache für Luftnot-Attacken eines Jugendlichen
„Das Problem war die fehlende Diagnose. Durch Prof. Grigull ist dann alles einfacher geworden. Vorher gab es mehrere Krankenhäuser und Ärzte und keiner konnte genau sagen, was los ist“, sagt Jay* [*Name geändert]. Es begann vor mehr als drei Jahren. Der damals 14-Jährige kam vom Fußballtraining und sagte seiner Mutter, dass er mit dem Vereinssport aufhört, da er einfach nicht mehr mithalten konnte. Vor einigen Wochen hatten seine Asthma-Medikamente aufgehört zu wirken und unter der starken körperlichen Belastung des Trainings bekam er Atemnot. Es schien ihm, als ob sich sein Hals im Bereich des Kehlkopfs zusammenschnürt. „Es stand dann auch zum ersten Mal im Raum, dass es vielleicht doch nicht Asthma ist“, konstatiert Jays* Mutter. Auf der Suche nach einer körperlichen Ursache für seine Beschwerden begann ein sehr anstrengender Marathon stationärer und ambulanter Vorstellungen in unterschiedlichen Kliniken. Röntgen, Computertomographie (CT), Lungenspiegelung (fachsprachlich Bronchoskopie), Lungenfunktionstests und Herzuntersuchungen standen neben anderen Untersuchungen immer wieder auf dem Programm. Jedes Mal wurde in einer Anamnese alles erneut abgefragt, Blut abgenommen oder nochmals Zugänge gelegt.
Auf der Suche nach des Rätsels Lösung
Dabei wurden viele Erkrankungen ausgeschlossen, zum Beispiel auch die für Jay* und seine Eltern belastenden Diagnose Swyer-James-Macleod-Syndrom. Dabei handelt es sich um ein seltenes, unheilbares Lungenemphysem, das häufig irrtümlich als Asthma diagnostiziert wird. Immer wieder wurde dem jungen Patienten die Frage gestellt, ob er seine Asthma-Medikamente richtig einnimmt, da keine Lösung in Sicht war. „Diese intensive Ursachensuche provozierte aber auch, dass auffällige Befunde gefunden wurden, die sogar gar nichts mit seinen Beschwerden zu tun hatten, sondern eher in die ‘diagnostische Irre’ führten“, sagt Prof. Grigull.
Im Herbst 2020 war Jay* nicht mehr zu Untersuchungen in verschiedenen Kliniken bereit. Aufgrund eines zufälligen ärztlichen Rats wandte sich die Familie dann bewaffnet mit einer dicken Mappe voll mit Arztbriefen und Untersuchungsberichten an das UKB. Prof Grigull holte Jay* und seine Mutter persönlich im Foyer ab und hörte zusammen mit einer Medizinstudentin seinem jungen Patienten erst einmal etwa zwei Stunden in Ruhe zu, bevor sie ihn kurz untersuchten. „So intensiv und einfühlsam hatte bisher keiner Jay* zugehört. Prof. Grigull wollte wirklich verstehen wie es ihm geht und wie er seine Symptome beschreibt, die ganz oben in seinem Hals saßen. Er holt einen dort ab, wo man steht“, beschreibt Jays* Mutter den etwas anderen Ansatz des ZSEB. Nach Sichtung der mitgebrachten Unterlagen, Auswertung mit Künstlicher Intelligenz (KI) von speziellen Fragebögen und Besprechung in der überregionalen Kinder-Fallkonferenz bot Prof. Grigull in einem für Laien verständlichen Arztbrief der Familie eine Lösungsstrategie vor, die letztendlich zum Erfolg führte.
Verdacht auf eine belastungsabhängige Atemstörung erhärtet sich
Seine wichtigste Verdachts-Diagnose war Exercise-Inducible Laryngeal Obstruction (EILO). Denn diese Funktionsstörung der Stimmbänder, bei der diese sich plötzlich eng stellen, könnte bei Jay* möglicherweise durch körperliche Belastung ausgelöst und zu seinen plötzlichen, mitunter heftigen Anfällen von Atemnot führen. Auch hielt Prof. Grigull eine dysfunktionelle Atmung mit schwacher Ventilation, kurz DATIV genannt, für möglich. Hier kommt es durch falsche Atemtechnik zu Luftnot. Die von Prof. Grigull vorgeschlagene Spiegelung der Stimmbänder erfolgte in Hamburg. Anschließend wurde in Bochum die aufgrund von Corona bisher fehlenden Spiroergometrie nachgeholt. Dabei konnte die Diagnose einer belastungsabhängigen Atemstörung wie DATIV oder EILO bestätigt werden. „Ich bin froh endlich eine Diagnose zu haben – aber auch keine so schlimme. Jetzt hoffe ich darauf, beim Tennis bald wieder Einzel spielen zu können und bald erneut die gleiche körperliche Konstitution zu haben wie andere Jungen in meinem Alter“, sagt Jay*. Dabei setzt er voll auf die empfohlene Atemphysiotherapie, die ihm helfen soll, bei körperlicher Belastung die richtige Atemtechnik anzuwenden.
„Ich wünsche allen Eltern, die sich in einer ähnlich ungewissen, das Kind sehr belastenden Situation befinden, das Glück auch an ein solches Zentrum zu kommen“
Jays* Mutter
Seltene Erkrankungen und der lange Weg zur Diagnose
Unter diesem Titel ist im April 2021 ein Buch von Prof. Lorenz Grigull im Springer Verlag erschienen. In 15 Fallgeschichten zeichnet der Autor den ganz persönlichen Weg von Patienten im Kinder- und Erwachsenenalter mit seltenen Erkrankungen nach. Er schildert ihre Lebens- und Leidensgeschichte auf der Suche nach einer Diagnose. Das Buch soll anhand dieser individuellen Fälle Ärzten Anhaltspunkte dafür geben, genau hinzusehen, den Betroffenen die richtigen Fragen zu stellen und auf Schlüsselerlebnisse zu achten.
„Selten allein“ – Kunstaktion zum weltweiten Tag der Seltenen Erkrankungen
Die Kunstaktion „Selten allein” zeigt Selbstporträts, die Menschen mit seltenen Erkrankungen in den letzten Monaten gemalt, gezeichnet oder fotografiert haben. Diese Bilder sind zusammen mit einer kurzen Selbstauskunft zur Person und ihrer Krankheit in ausgewählten Einkaufsbahnhöfen und Uniklinika in Deutschland zu sehen, so auch UKB. Auf diese Weise machen Betroffene auf den 15. weltweiten Tag der Seltenen Erkrankungen am 28. Februar aufmerksam. Die Website www.seltenallein.de sensibilisiert für das Thema „Seltene Erkrankungen“, bietet Informationen und Betroffenen die Gelegenheit, sich zu vernetzen.
Am UKB ist die Ausstellung im Eltern-Kind-Zentrum (ELKI) ab 28. Februar voraussichtlich für zwei Wochen zu sehen.