„Ich stand im Regen und habe es genossen“
Eine zierliche und strahlende junge Frau, die in einem Café an einem Schokocroissant zupft – eine Alltagsszene für die meisten. Dass sie selbst diese Frau im Café wieder sein könnte, war für Charlien Vikarius noch vor einigen Monaten kaum vorstellbar. Denn seit einem Darminfarkt mit Folgeoperationen vor knapp elf Jahren litt die 35-Jährige unter Darmversagen und erhielt den Großteil ihrer Nahrung täglich über einen intravenösen Katheter. Dank einer engmaschigen Betreuung durch ein interdisziplinäres Team des Zentrums für Seltene Darmerkrankungen am Universitätsklinikum Bonn (UKB) kann die junge Frau nun nach über einem Jahrzehnt wieder normal essen.
Welche Träume hat man mit 18? Reisen, sich verlieben, vielleicht studieren … Auch Charlien Vikarius reiste als Teenager für ein Jahr in die USA. Doch schon kurz nach dem Ankommen ging es ihr körperlich so schlecht, dass sie das Auslandsabenteuer abbrechen musste. In Deutschland folgten Arztbesuche, Untersuchungen und zunächst viel Unverständnis. Lange Zeit konnte die richtige Diagnose nicht gestellt werden: „Stress“, war das Resümee der Ärzte. Die Jugendliche wollte natürlich ungeachtet der Beschwerden weiterhin ein normales Leben führen und begann eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten. Doch die Silvesternacht 2005/2006 endete für sie trotz des jungen Alters mit einer Lungenembolie, einer Blutgefäßverstopfung der Lunge, im Krankenhaus. Es ergaben sich auch erste Hinweise auf eine familiäre Veranlagung, denn das gleiche Krankheitsbild hatte das Leben ihres Vaters gefordert.
Seitdem ging es gesundheitlich rapide bergab. Die Blutwerte der Patientin verschlechterten sich zunehmend, aber niemand wusste genau, was die junge Frau plagte. „Irgendwann bin ich zusammengebrochen“, erinnert sich die gebürtige Cuxhavenerin. In einer Not-OP wurde ihr zunächst der Blinddarm herausgenommen – der am wenigsten beschädigte Darmabschnitt, wie sich später herausstellte. Nach der OP hatte Vikarius allerdings die gleichen starken Bauchschmerzen und es ging ihr nicht besser. Eine Computertomographie und weitere Operationen folgten. Endlich wurde die akute Diagnose gestellt: Mesenterialinfarkt oder Darminfarkt aufgrund einer angeborenen Blutgerinnungsstörung, welche zu kleinen Blutgerinnseln führt. Es handelte sich um einen akuten Verschluss einer der großen Schlagadern, die die Bauchorgane und auch den Darm versorgen.Die junge Patientin wurde schließlich in ein anderes Klinikum verlegt, wo ihr die nicht mehr durchbluteten Anteile wie Gallenblase und Milz sowie große Abschnitte des Dünn-und Dickdarms entfernt wurden. Auch eine Lebertransplantation stand anfänglich im Raum, doch das Organ erholte sich allmählich. Stück für Stück wurde immer mehr Darm in den darauffolgenden OPs entfernt. Die Patientin bekam einen künstlichen Darmausgang.
Wie oft sie operiert wurde? Charline Vikarius erinnert sich nicht genau. Auch die Verlegung ins UKB mit offenem Bauch hat sie nicht wahrgenommen. „Ich war wie im Nebel“, sagt sie. Es begann der lange Weg der intestinalen Rehabilitation und einer künstlichen Ernährung über die Vene, um die verlorengegangenen Darmabschnitte zu ersetzen.
Nichts zu verlieren
Während dieser schwierigen Zeit trat ein Mann in das Leben von Charlien Vikarius. „Ich habe das Ausmaß meiner Krankheit lange verschwiegen. Es war mir unangenehm und peinlich. Zwei Monate nach unserem Kennenlernen sind wir nach Wien geflogen und es war schrecklich. Mir ging es schlecht und ich suchte Ausreden für meine häufigen Toilettengänge“, erzählt sie. Doch den gestandenen Feuerwehrmann konnte auch der zweite Mesenterialinfarkt seiner Auserwählten nicht abschrecken. Weinend kehrte sie aus der Klinik zurück nach Hause – mit einem Katheter im Brustkorb. Zwei Jahre später feierten sie ihre Hochzeit und im gleichen Jahr kam ihre gemeinsame Tochter zur Welt.
„Ich wollte immer Kinder haben“, sagt Vikarius. „Die Ärzte haben mir verständlicherweise eine Schwangerschaft nicht empfohlen. Meinem Mann habe ich es von Anfang an erklärt und es war OK für ihn. Aber irgendwann ging es mir psychisch so schlecht, dass ich einfach nichts mehr zu verlieren hatte.“
Während der Schwangerschaft ging es der jungen Frau so gut wie nie. Parenteral ernährt wog sie knapp über 40 kg bei einer Körpergröße von 172 cm. „Ich habe Sahne getrunken, damit ich ein bisschen zunehme – es hat nichts geholfen.“ In der Schwangerschaft hat sie dann 20 kg zugenommen. Auch die Eisenwerte haben sich seitdem stabilisiert und bleiben bis heute fast immer im Normbereich.
Vikarius’ risikoreiche Schwangerschaft wurde ebenfalls im UKB betreut, wo die junge Mutter eine fachübergreifende Rundumversorgung aus der der Gynäkologie (Zentrum für Spezielle Geburtshilfe und Perinatalmedizin, Prof. Waltraud Merz), der Chirurgie (Zentrum für seltene Darmerkrankungen, PD Dr. Martin von Websky), der Hämostasiologie (Prof. Bernd Poetzsch) und den angrenzenden Fachbereichen bekam. „Ich habe mich sehr sicher und akzeptiert gefühlt, sodass ich meine Schwangerschaft trotz der Risiken auch genießen konnte“, fasst die UKB-Patientin zusammen. 2017 durfte sich Charline Vikarius sogar über ihre zweite Schwangerschaft und neun Monate später über die Geburt ihres Sohnes freuen. „Meine behandelnde Ärztin, Prof. Merz, und Arzt, Dr. von Websky, haben die Nachricht von der geplanten zweiten Schwangerschaft ganz cool aufgefasst“, erinnert sich die zweifache Mutter.
Kaffee und Wasser
Seit 2011 bestimmte der intravenöse Katheter für die parenterale Ernährung das Leben von Charlien Vikarius. 13 Stunden an jedem Tag liefen die Infusionen. Das permanente Problem: die Schläuche, die nicht rutschen dürfen. „Ich habe sie mit Pflastern abgeklebt, vor allem nachts. Ich hatte immer Angst, dass die Schläuche reißen oder sich um meinen Hals wickeln. Auch musste alles steril sein“, erklärt sie. Eine Mammutaufgabe war das Duschen: die Schläuche am Brustkorb abdecken und mit Pflastern festkleben, Kopf und den gesamten Körper etwas nach hinten neigen – damit bloß nichts nass wird. Denn bei unsterilem Arbeiten oder Nässe droht Infektionsgefahr. Bis 2018 konnte Vikarius zunächst noch einmal am Tag essen – immer abends. Nach ihrer zweiten Schwangerschaft bildete sich in ihrem Darm eine Verengung, sodass das Essen nicht mehr möglich war, da sonst ein Darmverschluss drohte. Der Ernährungsplan für die nächsten vier Jahre beinhaltete schließlich nur Kaffee, Wasser sowie parenterale Ernährung, während die Kinder größer wurden.
Auf Ihren Wunsch hin entschloss sich das Team für intestinale Rehabilitation um PD Dr. Martin von Websky in der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie des UKB unter Prof. Jörg C. Kalff schließlich im Januar 2022 eine weitere Operation durchzuführen, um den Darm zu rekonstruieren und die Engstelle zu beheben. Nach unzähligen Voroperationen, offener Bauchbehandlung und unter Blutverdünnung – ein Risiko, das man nur nach jahrelanger enger Anbindung der Patientin und ausführlichen Gesprächen gemeinsam einging. Nach der erfolgreichen Operation motivierten Dr. von Websky und sein Team die Patientin schrittweise wieder zum Essen. „Das war das Schwierigste, weil ich mir das Essen über die Jahre abtrainiert hatte. Ich hatte auch keinen Appetit und war nicht neidisch auf andere, die gegessen haben“, erklärt Charlien Vikarius. Die Krume eines Brötchens war ihre erste Nahrung, die keine Bauchschmerzen mehr auslöste. Fünf Wochen später in einem Skiurlaub hatte sie bereits Germknödel probiert und schon vorsichtig eine bis zwei Infusionen weggelassen. Alle drei bis vier Wochen, kontrolliert vom Ernährungsteam des UKB, gab es eine Infusion weniger.
Leben ohne Katheter
Vor nun drei Monaten konnte der Katheter bei einem Besuch in der Sprechstunde für intestinale Rehabilitation endlich entfernt werden. Ein besonderer Tag, denn einerseits sei der Katheter immer ihr Rettungsring gewesen: Nun musste sich der Körper selbst versorgen. Andererseits bekam die junge Mutter immer mehr Panikattacken vor dem täglichen Anschließen des Katheters. „Meine Angst vor einer möglichen Infektion ging so weit, dass ich meine Kinder abends noch mehr geküsst habe, weil ich nicht wusste, ob ich morgens aufwache.“
An die neu gewonnene Freiheit ohne Katheter muss sie sich immer noch gewöhnen: „Ich kam aus dem UKB heraus und es fing an zu regnen. Ich stand im Regen und habe es so genossen! Ich durfte wieder nass werden und musste keine Angst mehr vor einer Infektion haben“, lächelt Charlien Vikarius. „Manchmal stelle ich mich aber beim Duschen noch so hin, dass mir das Wasser nicht über das Gesicht und die Brust läuft. Eine alte Gewohnheit.“
Die Umstellung dauert immer noch an. Ohne Katheter plagte die junge Frau morgiger Schwindel, weil der Körper nachts keine Nährstoffe mehr – wie früher üblich – bekommen hat. Seit einigen Wochen geht es der Kurzdarmpatientin jedoch immer besser.
Rundumbetreuung bei Darmversagen
PD Dr. Websky, Sprecher des Zentrums für Seltene Darmerkrankungen, Darmversagen und intestinale Rehabilitation am UKB, ist überzeugt: „Das Wichtigste bei einer komplizierten Erkrankung wie dem Kurzdarmsyndrom ist eine individuelle Betreuung. Das ermöglichen wir unseren Patienten, indem wir Hand in Hand mit allen relevanten medizinischen Bereichen zusammenarbeiten sowie durch internationale Forschungsprojekte.“ Er und sein Team bieten am UKB gemeinsam mit der Klinik für Innere Medizin I (Dr. Annekristin Hausen, Leitung Prof. Christian Straßburg) im Rahmen des ZSEB eine der bundesweit größten Sprechstunden für Darmversagen an.
Charlien Vikarius hat die Erfahrung gemacht, dass viele Ärzte sich mit dem Kurzdarmsyndrom nicht auskennen. Auch die sichere Variante des Katheters für die parenterale Ernährung, der sogenannte getunnelte „Broviac-Katheter“, werde nicht an jedem Klinikum angeboten. „Ich bin sehr glücklich, dass ich ins Zentrum für Seltene Darmerkrankungen am UKB kam, weil die Spezialisten hier wissen, wie man mit jedem Symptom umgeht – seien es Fehlbesiedlungen oder Nierensteine etc. Ich wurde ernstgenommen und nie allein gelassen. Man braucht die Kurzdarmambulanzen, weil Menschen mit dieser Erkrankung stark leiden und oftmals falsch oder ungenügend von den Ärzten betreut werden“, resümiert die UKB-Patientin.
Den Ist-Zustand genießen
Das Schokocroissant ist zu Ende gezupft worden. Heute geht es Charlien Vikarius gut. Sie gibt aber zu, dass sich der Ist-Zustand immer ändern kann. Sie sei immer noch nicht voll belastbar. Und doch wagt sie mehr. Zum Beispiel spricht sie offener über ihre Erkrankung. Den Anstoß dazu gab ihr die Flut im Ahrtal, ihrem jetzigen Heimatort, vor einem Jahr. Im letzten Moment stieg die Familie Vikarius mit den beiden Kindern aus dem Auto, bevor es von der Flutwelle erfasst und weggetrieben wurde. Die zweifache Mutter ist nun beim Wiederaufbau häufiger auf spontane Hilfe von Nachbarn oder Bekannten angewiesen, um den Alltag zu meistern.
Ob Charlien Vikarius jemals aufgeben wollte? „Ja“, gibt sie schnell zu. „Es schlaucht einen auf Dauer. Ich sehe, dass unsere Freunde ihr ganz normales Leben führen. Ich bin aber den ganzen Tag mit meinem Körper beschäftigt, ob mein Bauch mitmacht und wir den Tag rumkriegen. Erstaunlich ist aber auch, wie der Körper alles versucht, um die Mängel auszugleichen. Wir sind doch taffer als wir denken.“